Die Vermählung von Raum und Zeit
- Andreas H. Landl
- 3. Apr. 2024
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© Andreas H. Landl Wien 25.8.2019
Ich lernte Stephen auf einer Party in Oxford kennen. Er sprach mich einfach an. Er sagte, „Hallo", ich ebenso. Er sagte: „Physik" und ich sagte: „Kunst". Wir kamen ins Gespräch und spazierten ins Freie. Er schlenderte lässig beide Hände in den Hosentaschen und sagte: „Ich bin Kosmologe".
Ich fragte ihn: „ Was ist das?".
Er sagte: „Ich studiere die Vermählung von Raum und Zeit."
Ich meinte: „Das perfekte Paar".
Einige Tage später sagte er bei einem Spaziergang zu mir: „Und wenn ich die Zeit einfach zurückdrehe, um zu sehen, was am Anfang war?".
Ich sagte: „Dreh die Zeit zurück" und wir fassten einander an den Händen und drehten uns wie Kinder im Kreis. Wiederum einige Tage später sagte er zu mir, weiterdrehen, fasste mich bei den Händen, wir drehten uns immer wilder.
Plötzlich brach er zusammen und stürzte zu Boden. Bei einer Untersuchung fanden sie heraus, dass er eine Erkrankung der Moto-Neuronen hatte. Der Arzt meinte er habe nur noch eine Lebenserwartung von zwei Jahren.
Als er mir davon erzählte, sagte ich ihm: "Ich will, dass wir solange zusammen sind, wie es geht". Ich liebte ihn und er liebte mich, ich war fest entschlossen, die Krankheit mit ihm gemeinsam zu bekämpfen.
Einige Zeit später begab er sich auf eine Reise mit der Bahn. Kurz vor der Abreise nahm er plötzlich ein Stuck Kreide aus der Tasche und kritzelte eine Kugel mit Längen und Breitengraden auf den Bahnsteig.
Er erklärte diese Kugel verkörpere die Raumzeit des Kosmos. Die Ost-West-Richtung sei die räumliche Dimension, die Nord-Süd-Richtung stehe für Zeit. In dieser Ansicht erscheine einem alles vollkommen eben und die Achsen für Raum und Zeit stehen im rechten Winkel zueinander.
Die Ost-West-Achse scheine eine Gerade zu sein und man übersehe, dass sie zu einem kreisförmigen, in sich geschlossenen Breitengrad verbogen sei. Folge man einem Längengrad nach Norden, so sei das vergleichbar mit einer Reise in die Vergangenheit. Das Universum, die Kreise der Breitengrade, wird immer kleiner, je näher man dem Ursprung des Kosmos komme - quasi am Nordpol.
Am Nordpol selbst werden die Himmelsrichtungen Nord, West, Süd und Ost zu einem Punkt. Hier kann man nicht mehr zwischen Längen- und Breitengrad unterscheiden. Auch mache hier die Frage, was liege nördlich des Nordpols keinen Sinn mehr. Genauso wenig wie die Frage, was war vor dem Urknall?
Stephen hat das dann in seiner Doktorarbeit mathematisch formuliert. Stephen und ich heirateten. Wir bekamen drei Kinder.
Mit dem Verfall seines Körpers ist die Brillanz seines Geistes gewachsen. Ich sah es als meine Hauptaufgabe, ihn immer wieder daran zu erinnern, dass er nicht Gott ist.
Mit einem Leben nach dem Tod rechnete er - Gott hin oder her - nicht.
Er sah das Gehirn als Computer an, der aufhörte zu arbeiten, wenn seine Einzelteile nicht mehr funktionieren. Er meinte: „Es gibt kein Leben nach dem Tod für kaputte Computer."
Stephen wurde genau am 300. Todestag von Galileo Galilei geboren. Er verabschiedete sich in sein geliebtes Universum am 139. Geburtstag von Albert Einstein, am 14. März 2018 im Alter von 76 Jahren. Kurz vorher hat er sein letztes Buch, Kurze Antworten auf große Fragen, abgeschlossen.
Er beantwortete darin zehn Fragen, mit dem ihm eigenen Humor.
1. Gibt es einen Gott?
2. Wie hat alles angefangen?
3. Gibt es anderes intelligentes Leben im Universum?
4. Können wir die Zukunft vorhersagen?
5. Was befindet sich in einem schwarzen Loch?
6. Sind Zeitreisen möglich?
7. Werden wir auf der Erde überleben?
8. Sollten wir den Weltraum besiedeln?
9. Wird uns Künstliche Intelligenz überflügeln?
10. Wie gestalten wir die Zukunft?
Ich glaube er hat nun alles gesagt, was ihm wichtig war.
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